Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
               9.3.5.2. Ziele und Struktur des Schulmodells

               9.3.5.3. Selbstverwaltung, Selbstbestimmung und Demokratie
               9.3.5.4. Freiwillige Teilnahme am Unterricht
               9.3.5.5. Schwierigkeiten und Schattenseiten der Schule

      10. Schwierigkeiten und Schattenseiten der Schule



9.3.5.3. Selbstverwaltung, Selbstbestimmung und Demokratie

Das wohl bedeutendste Charakteristikum dieser Schule ist die Selbstbestimmung, die den Kindern zugebilligt wird. Im Rahmen eines demokratischen Systems, machen die Kinder in Summerhill ihre eigenen Gesetze (wenn es um Entscheidungen geht, die Bedeutung für die gesamte Gemeinschaft haben) und achten eigenverantwortlich darauf, dass diese auch eingehalten werden. Diese konsequente Umsetzung des Demokratieverständnisses gilt als das radikalste dieser Art in einem Schulsetting. Kinder, Jugendliche, Lehrer, Schulleitung haben völlig gleiche Rechte in dieser Verfassung. Die Wortmeldungen jüngerer Kinder werden in den Meetings genauso ernst genommen wie die der Lehrer oder der Direktorin. In einem solchen Rahmen entwickeln die Kinder und Jugendlichen die Fähigkeit, Verantwortung für sich selbst und die Gemeinschaft zu übernehmen, sich selbstbewußt zu behaupten, weil Mitsprache für sie zur Selbstverständlichkeit wird und sie die Effekte ihrer Entscheidungen unmittelbar erfahren.

Entschieden wird in zwei Meetings die beide wöchentlich statt finden: das General Meeting und das Tribunal. Es besteht für diese Treffen keine Anwesenheitspflicht, jedoch erscheint für gewöhnlich ein Großteil der Gemeinschaft und repräsentiert die ganze Altersstreuung ihrer Mitglieder. Jeder kann seine Meinung sagen und hat bei der Abstimmung eine Stimme, dies gilt sowohl für den Schulleiter, die Lehrer, die Hauseltern und die Kinder gleichermaßen. Die Kinder haben damit nicht nur die gleiche Macht, sie übertreffen die Erwachsenen zahlenmäßig bei weitem.

Im General Meeting werden von der Gemeinschaft alle Gesetze formuliert und beschlossen, die das gemeinschaftliche Zusammenleben regeln (z.B. Bettgehzeiten, Ausgehregeln, Fernseh- und Computerregelungen, akzeptable Plätze zum Bogenschießen ect.). Viele Gesetze sind saisonbedingt und werden verändert oder abgeschafft, wenn sie nicht mehr gebraucht werden; andere halten jahrelang.

Summerhill besitzt momentan ca. 230 Gesetze und ist damit wahrscheinlich die Schule mit den meisten Regeln im Land.(vergl. M. Appleton, 2000: 67)

Es gibt jedoch auch etwa eine Hand voll Gesetze, die alleinig in der Hand der Schulleitung liegen. Diese Vorschriften beziehen sich auf Gesundheits- und Sicherheitsgesetze und aller sonstigen Gesetze, die Teil der staatlichen Gesetzesgebung sind (z.B. Alkohol- und Drogenverbot, das Verbot, dass ältere Mädchen und Jungen im gleichen Zimmer untergebracht werden, Umgang mit Luftgewehren ect.). Diese Einschränkung ist notwendig, um den Erhalt der Schule zu sichern.

Im Tribunal können Gesetzesverstöße und Streitereien vor "Gericht" gebracht werden (z.B. Störungen im Unterricht, Diebstähle, Beleidigungen, Brechen von Regeln ect.). Natürlich können sowohl Schüler, als auch Lehrer oder Personal vor das Tribunal gebracht werden, wenn ihr Verhalten unsozial war oder sie gegen die allgemein gültigen Regeln verstoßen haben.

Die Strafen bestehen meist in Form von geringen Geldzahlungen, Pudding-Entzug oder gemeinnützigen Arbeiten wie z.B. Gartenarbeit. Gegen sie kann zu Beginn des nächsten Meetings Berufung eingelegt werden, da die Urteile gelegentlich durch hitzige Diskussionen als unangemessen empfunden werden. Meist werden sie im nachhinein milder ausgesprochen.

Der Ton im Tribunal ist weder moralisch noch psychologisch. Die Kinder versuchen möglichst einfach und praktisch an einen Streitfall ran zu gehen (da es in Summerhill kein Moralisieren und auch kein Machtgefälle gibt, können Konflikte auch eher rational und ohne Zorn oder gegenseitige persönliche Verletzungen gelöst werden). Dadurch entwickelt sich eine Kommunikationskultur, die auf Kooperation, Toleranz und Gewaltlosigkeit ausgerichtet ist.

Das Amt des Vorsitzenden beim Meeting ist freiwillig. Es wird in der vorhergehende Woche immer neu gewählt. Der Vorsitzende hat die Aufgabe das Meeting zu leiten, darauf zu achten, dass jeder der sich meldet zu Wort kommt, zur Abstimmung aufzufordern und die Stimmen auszuzählen. Selbst muss er während der Sitzung neutral bleiben und ist nicht stimmberechtigt (wenn er zu einer Sache etwas sagen möchte, muß er sein Amt niederlegen und jemand anderes übernimmt seinen Vorsitz). Auch wenn der Vorsitzende letzten Endes die Macht hat, ist es eine schwierige Aufgabe 70 Leute unterschiedlichen Alters eine Stunde lang ruhig sitzend zu halten (der Vorsitzende kann auch bei störendem Verhalten Sanktionen wie Geldstrafen, Umsetzen von Personen oder Ausschluß vom Meeting erheben).

Auch das Vollzeitpersonal trifft sich jede Woche, um Verwaltungssachen, Neuigkeiten, Neueinstellungen von Mitarbeitern oder Finanzen zu diskutieren. An diesen formellen bzw. finanziellen Angelegenheiten (z:B. Stromrechnung ect.) der Schule haben die Schüler zumeist wenig Interesse. Aus diesen Gründen übernehmen ehr die Erwachsenen diese Aufgaben. (vergl. M. Appleton 2000 : 74 - 90)

9.3.5.4. Freiwillige Teilnahme am Unterricht

Kinder in Summerhill wachsen in einem Milieu auf, in dem sie lernen, ihren eigenen Interessen und Motivationen zu folgen. Sie können selbstbestimmt entscheiden, welche Schwerpunkte sie in ihrer schulischen Ausbildung setzen.

Die Teilnahme am Unterricht ist freiwillig, es besteht keine Anwesenheitspflicht. Es gibt weder Zensuren noch Prüfungen oder Zeugnisse. Die Kinder entscheiden selbst, ob sie akademischen Unterricht besuchen, spielen oder künstlerisch/handwerkliche Tätigkeiten ausüben möchten. Sie bekommen jedoch die Möglichkeit am Ende ihrer Schulzeit einen staatlich anerkannten Abschluß zu machen und können sich in Summerhill auf diese Prüfung vorbereiten. Die meisten Kinder gehen jedoch gerne und regelmäßig zum Unterricht, viele von ihnen besuchen anschließend Colleges oder andere Institutionen zur Weiterbildung.

Es gibt auch Kinder deren natürlicher Wissensdurst durch den Zwang von konventionellen Schulen schon fast versiegt ist; diese Kinder gehen dann oftmals, wenn sie nach Summerhill kommen monate- oder jahrelang nicht zum Unterricht. Diese Kinder benötigen Zeit, um wieder Vertrauen zu gewinnen und innere Motivation verspüren zu können, das zu lernen was sie wissen wollen.

Durch diesen Willen zum Lernen sind sie dann in der Lage, sich in kurzen Zeiträumen auch vermeintlich fest umrissene Wissensgebiete individuell anzueignen, für die Schüler von Staatsschulen oftmals lange Jahre benötigen (mit z.T. steter Wiederholung).

Das Schulsetting in Summerhill erlaubt einen größtmöglichen individuellen Entwicklungsfreiraum unter Berücksichtigung der persönlichen und sozialen Bedingungen und Notwendigkeiten. Lernen findet auch außerhalb des Unterrichts statt und manifestiert sich nicht nur auf Unterrichtseinheiten. Hierbei spielt die Gemeinschaft und der soziale und gleichberechtigte Umgang unter den Kindern und den Erwachsenen eine zentrale Rolle für den pädagogischen Alltag. Der Rahmen der Schule ist so gestaltet, dass Kinder und Jugendliche sich gegenseitig unterstützen und die Erwachsenen an der Schule die alleinige Funktion haben, diese Struktur aufrecht zu erhalten.

Die jüngeren Kinder werden in zwei verschiedene Grundschulklassen eingeteilt, die jeweils von einem festen Lehrer unterrichtet werden. Erst ab dem 12 Lebensjahr können die Kinder sich für spezielle Fächer eintragen. Der Stundenplan wird aktiv von den Kindern mitgestaltet und richtet sich u.a. auch nach deren Interessen.

Die Schule bietet zur Zeit folgende Fächer an: Naturwissenschaften (Biologie, Physik, Chemie und Astronomie), Mathematik, Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Japanisch, Holzarbeiten, Kunst und Töpfern, Drama, Geschichte, Geographie, Computer, Musik (nach Absprache), verschiedene Sportarten (nach Absprache), Fotografie, Informationstechnologie

Die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern ist sehr positiv und freundschaftlich, da sie auf gegenseitiger Achtung basiert, es bestehen keine Hierarchien zwischen ihnen, wodurch sich auch keine Minderwertigkeitsgefühle entwickeln können. Sie unterscheiden sich lediglich im Grad ihres Wissens und ihrer Erfahrung und den gilt es durch den Unterricht und durch das Leben in der Gemeinschaft zu vermindern. Die Aufgabe der Lehrer ist es nicht zu "belehren" im herkömmlichen Sinne, sondern für Herausforderungen zu sorgen, die neue Lernsituationen schaffen.

9.3.5.5. Schwierigkeiten und Schattenseiten der Schule

Problematisch gestaltet sich die Tatsache, dass etwa ein drittel der Kinder in Summerhill aus asiatischen Ländern kommen, vor allem aus Japan. Aufgrund des dortigen autoritären Erziehungssystems verlief die Sozialisation asiatischer Schüler in wesentlich strafferen Bahnen, als dies bei europäischen Kindern der Fall ist. Durch diese ganz andere traditionelle Mentalität entwickeln sich unweigerlich Probleme im Zusammenleben in Summerhill. (verg. M. Appleton 2000 : 184- 186)

Dieses demokratische Schulmodell ist darüber hinaus, so konzipiert, dass es zwar einen gewissen Prozentsatz an problematischen bzw. verhaltensauffälligen Schülern mitragen kann, jedoch können - wie in allen wirklich demokratischen Lebensformen, zu viele schwierige und stark gepanzerte Kinder ein solches System auch zum Kippen bringen. Verhaltensauffällige Kinder werden in Summerhill zwar prinzipiell nicht abgelehnt (denn gerade sie können sich an diesem Ort zu sehr sozialen Menschen entwickeln), aber sie werden eher als Ausnahme aufgenommen, da eben nur einzelne in einem solchen System tragbar sind. Diese werden unter dem Vorbehalt aufgenommen, dass sie die Schule wieder verlassen müssen, wenn sie zu große Konflikte innerhalb der Gemeinschaft hervorrufen oder andere ernsthaft gefährden.

In diesem Zusammenhang, sei auch darauf hin gewiesen, dass es von großer Wichtigkeit ist, dass die Eltern der Summerhillkinder grundsätzlich hinter den Prinzipien der Schule stehen, um ihre Kinder nicht in Loyalitätskonflikte oder unter latenten Lern- und Leistungsdruck zu setzen, was sich wiederum leicht kontraproduktiv und schädlich für das Kind auswirken kann. Eltern müssen ,wenn ihre Kinder nach Summerhill gehen, lernen sie los-zu-lassen und an sie zu glauben, so dass die Kinder ihren eigenen Weg gehen können - eine schwierige Aufgabe für die Eltern.

Viele Eltern haben auch Schwierigkeiten das Schulgeld aufzubringen. Aus diesem Grund kommen die meisten Kinder eher aus der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht. (Bis zum Jahr 2000 zahlte der englische Staat für manche Problemkinder, die in anderen Schulen untragbar waren)

Die Situation für das Lehr- und Betreuungspersonals in Summerhill ist oft nicht leicht, sie müssen viel persönliches Engagement besitzen und benötigen oftmals längere Zeit, um sich neu einzuarbeiten und um wirklich die dortigen Besonderheiten berücksichtigen und leben zu können. Zudem besitzen sie wenig Privatsphäre und Freizeit. Sie verdienen relativ wenig (jedenfalls weniger als im Staatsdienst), Lehrer können in Summerhill keine "Karriere" machen und einige Lehrer haben Schwierigkeiten mit der Umsetzung der Prinzipien (zudem muß man ein wirklich guter Lehrer sein, denn anderenfalls bleiben die Kinder dem Unterricht fern und können die mangelnde Unterrichtsqualität im Meeting vortragen und eine Verbesserung verlangen). (vergl. M. Appleton 2000 : 115 - 118)

Obwohl Summerhill sehr an aufklärender Öffentlichkeitsarbeit interessiert ist, gestaltet sich diese ehr schwierig. Ohne einen aktuellen Anlaß (z.B. die drohende Schließung der Schule) berichten englische, wie deutsche Medien nicht über Summerhill. Es gibt einige wenige Filme, wie z.B. die Channel 4- Reportage, von denen sich verzerrte Eindrücke und skandalöse Bilder, bis heute noch negativ und stigmatisierend auf Summerhill auswirken.

In den 90er Jahren wurde die Schule mehrfach von britischen Inspektoren der Schulaufsichtsbehörde OFSTED (Office for Standards in Education) kontrolliert. Die letzte große Inspektion fand vom 1.-5. März 1999 statt. Wie auch die Abschlußberichte vorheriger Inspektionen fiel das Urteil insgesamt, trotz einiger erwähnter positiver Aspekte sehr negativ aus. Aus diesem Bericht resultierend forderte die Schulaufsichtsbehörde die Schließung Summerhills. Die Schule brachte diesen Rechtsstreit jedoch vor das High Court, das Oberste Zivilgericht in London, das Summerhill jedoch das Recht auf ihre eigene Philosophie zubilligte. (Die Schule wäre auch nicht bereit dazu gewesen hinsichtlich ihrer Prinzipien Kompromisse einzugehen; im Gerichtssaal entschieden nicht nur die Erwachsenen, sondern komplettdemokratisch die gesamte Summerhill-Gemeinschaft per Abstimmung darüber, die gerichtlichen Vereinbarungen anzunehmen, wie z.B. diverse Renovierungsarbeiten an der Schule.) Auch die Öffentlichkeit zeigte reges Interesse an diesem Prozess. In allen englischen und bedeutenden internationalen Zeitungen gab es sehr positive und wohlwollende Presseberichte über dieses historische Urteil. (zusammengefasst aus: M. Appleton 2000 und ergänzende aktuelle Informationen aus mehreren Gesprächen mit Dr. Dorothea Fuckert, Mutter zweier Summerhill-Schüler und Vorsitzende des Zentrum für Orgonomie - Wilhelm Reich Institut für Bildung, Forschung und Therapie, Waldbrunn)



Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
               9.3.5.2. Ziele und Struktur des Schulmodells

               9.3.5.3. Selbstverwaltung, Selbstbestimmung und Demokratie
               9.3.5.4. Freiwillige Teilnahme am Unterricht
               9.3.5.5. Schwierigkeiten und Schattenseiten der Schule

      10. Schwierigkeiten und Schattenseiten der Schule