Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
            9.2.2. Die Geburt

            9.2.3. Das Neugeborene und das erste Lebensjahr

            9.2.4. Zentrale Aspekte des Erziehungsmodells der Selbstregulationin der praktischen Umsetzung



9.2.3. Das Neugeborenen und das erste Lebensjahr

Da der Mensch ein außerordentlich komplexer lebendiger Organismus ist, besitzt er bereits als Neugeborener eine vielseitige Palette differenzierter Ausdrucks-, Kommunikations- und Wahrnehmungsfähigkeiten, welche bereits Neugeborene koordinieren können und so über ein komplexes Organisationssystem verfügen. Mithilfe von verschiedenen Integrationsebenen (im biologischen, physikalischen und verhaltensbezogenen Bereich) ist bereits das neugeborene Kind in der Lage mit bestimmten Reaktionsmustern sich in seine umgebene Umwelt zu integrieren, so wie sie von der unmittelbaren Bezugsperson vermittelt wird. Durch diese Erkenntnisse geht nun auch die zeitgenössische Kleinkindforschung davon aus, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind ab den ersten pränatalen Interaktionen einen fortlaufenden Prozess darstellt. Eine gesunde, innige Mutter- Kind- Bindung wird jedoch in besonderem Maße in den ersten Stunden, Tagen und Wochen nach der Geburt geprägt, dieses Stadium gilt deshalb auch als besonderst sensibel und bedeutsam. Bereits diese anfängliche Bindung entspricht allen bedeutsamen, gegenseitigen Austauschvorgängen zwischen Säugling und Mutter (es handelt sich dabei um transmodale Wahrnehmung, Wechselseitigkeit affektiver Abstimmung zwischen Mutter und Kind und Angleichungen, die mit Biorhytmizität, Synchronisation und erlernen von Kontaktaufnahme zusammenhängen). (vergl. Lichtenberg 1991 : 142-145)

In einer gesunden natürlichen wechselseitigen Beziehung wirken Affekte bzw. Gefühle von Geburt an als primäre Motivatoren, die den regulierenden Ausgleich in der Beziehung ermöglichen. Für die Praxis bedeutet dies, dass kindliche Gefühle und Bedürfnisse vom ersten Moment an ernst genommen werden müssen. Wenn Kinder in den ersten sechs Monaten schreien, geschieht dies nie aus einer "Laune" heraus, sondern wegen primären Defiziten (Hunger, Unwohlsein, Angst). Die Intensität hängt dabei von dem persönlichen Ausdruck des Kindes ab. Auch im fortgeschrittenen Säuglingsalter muß man mit kindlichen Gefühle respektvoll umgehen. Möchte z.B. eine fremde Person ein Baby unvermittelt drücken und küssen, wehrt sich das Kind oftmals dagegen, da dies ein gewalttätiger Eingriff in sein Gefühlsleben darstellt; eine Grenzverletzung. Auch sehr kleine Kinder wollen erst einmal beobachten, wer das ist, der da ausruft: "Oh, ist die süß!" Sie wollen und dürfen nicht zum Spielball der defizitären Gefühle von Erwachsenen werden. Erwachsene leiden manchmal an einem Mangel an Zärtlichkeit, den sie gelegentlich rücksichtslos mit Babys und Kleinkindern kompensieren. Diese kindlichen Grenzen müssen wahrgenommen und geachtet werden; nur so erfährt ein Kind Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit.

Die meisten Eltern stellen sich, wenn sie an Kinder denken, die sie mal haben werden, ein "vollkommenes" Kind vor. Diese Erwartungshaltungen setzen dann sowohl die Eltern , wie bereits auch das Baby unter einen enormen Druck. Jeder Säugling möchte gerne mit seinen biologischen Anlagen, d.h. seinem Temperament, Willensstärke, Intelligenz ect. grundsätzlich akzeptiert und angenommen werden. Seine Besonderheit und Individualität verbunden mit den jeweiligen Ausdrucksformen und Forderungen sollten daher ernst genommen und respektiert werden. Nur ein angemessener Umgang mit den frühkindlichen Grundbedürfnissen, wirkt sich für die Persönlichkeitsentwicklung förderlich und unterstützend aus, nur so können sich zukünftig seine grundsätzlich positiven individuellen Kerneigenschaften frei entfalten.

Im alltäglichen Miteinander und Zusammenleben geht es dabei weniger um die Frage, welches Verhalten im Umgang mit dem Säugling nun richtig oder falsch ist, sondern um die Offenheit und innere Bereitschaft, sich auf das Kind in seiner Individualität einzulassen und es gerne und selbstverständlich am gemeinsamen Leben der jungen Familie teilnehmen zu lassen. Eltern sollten Erziehung als positive Herausforderung annehmen können und sich wieder vermehrt für die oftmals verschüttete Empathie und Wahrnehmung des emotionalen Ausdruck bzw. Körpersprache ihrer Kinder sensibilisieren, damit sie sich in die Kinder einfühlen lernen und so einen natürlichen Umgang mit ihnen praktizieren können. Denn nur in dem Eltern die grundlegenden Bedürfnisse ihres Kindes liebevoll und zuverlässig erfüllen, entwickelt der Säugling Urvertrauen.

Zu den elementaren und natürlichen Grundbedürfnissen eines Säuglings gehört u.a. der Wunsch nach Nähe und Körperkontakt zur Mutter. Diese spontane sinnliche Körperbeziehung zwischen dem Neugeborenen und dem Erwachsenen ist für das Kind existentiell, denn es erfährt dadurch sowohl Geborgenheit und Sicherheit, als auch Selbstwertgefühl und eigenes Körperempfinden. Je mehr Körperkontakt und emotionale Sicherheit ein Säugling während des ersten Lebensjahres bekommt, desto leichter wird er sich in späteren Jahren lösen können, um seinen eigenen Weg zu suchen. Eine geglückte Loslösung setzt immer voraus, dass die Beziehung befriedigend war, der Mangel an Befriedigung frühkindlicher Primärbedürfnisse führt zu Verpanzerungen und emotionalem Rückzug.

Diesem sinnlichen Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt, kann auf verschiedenen Ebenen entsprochen werden, durch Babymassage, durch das Tragen des Säuglings als Alternative zum Kinderwagen, das gemeinsame Bett von Neugeborenen und Eltern ect..

Die unmittelbarste Ausdrucksform des Kleinkindes ist das Schreien, damit verleiht es in unterschiedlich individueller Form und Intensität seinen Gefühlen und Bedürftigkeiten Ausdruck. Ein schreiendes Neugeborenes sollte man besonderst in den ersten sechs Monaten grundsätzlich nicht allein lassen. Dieses Schreien ist für das Kind existentiell, den es fühlt sich in Lebensgefahr, wenn es merkt, dass es allein ist. Durch wiederholtes Auftreten dieser Ängste, besteht die Gefahr, dass sie sich dauerhaft im Kind in Form von chronischen Kontraktionen manifestieren, d.h. das Kind wird traumatisiert. Eltern sollten statt dessen dazu angehalten werden, nach individuellen Beruhigungsalternativen zu suchen wie z.B. es zu wiegen, zu halten, zu tragen, Schnuller als Ersatzform anbieten ect.

Ein weiteres Grundbedürfnis stellt für den Säugling das lustvolle gestillt werden dar. Stillen ist mehr als nur reine Nahrungsaufnahme für den Säugling, es bedeutet Sinnlichkeit, Intimität und Sättigung bzw. Befriedigung. Auch viele Mütter verspüren Lustgefühle beim Stillen (die Brustwarze ist ja auch ein hochsensibles, erektionsfähiges Organ), ein beidseitiges Lustgefühl der Verschmelzung zwischen Mutter und Kind. Diese Erregung und das Gefühl des Begehrens ist ein natürlicher Ausdruck von Sexualität. Ein sexualfreundlicher Umgang mit seinem Säugling beinhaltet u.a. eine solche Verschmelzung zwischen Mutter und Kind, d.h. das Zu-lassen-können dieser Verbundenheit in seiner energetisch - biologischer Funktion (leider ist diese Thematik ein gesellschaftliches Sexualtabu, welches letztendlich aus Sexualangst resultiert).

Ein weiterer Schritt zur Förderung der aktiven Selbstbestimmung und des aufkeimenden Autonomiebedürfnisses des Säuglings, ist das Stillen nach Bedarf. Der Rhythmus, in dem ein Säugling Hunger verspürt ist sehr individuell (wie bei Erwachsenen auch). Erwachsene sollten die Sicherheit besitzen, diesem inneren Zeitplan des Kindes zu vertrauen und ihn zu respektieren.

Jedoch ist das Stillen nach Bedarf nicht immer gleichbedeutend mit manchen unsicheren und ängstlichen Reaktionen von Müttern, jedes mal wenn das Kind schreit ihm sofort die Brust anzubieten. Nach einer gewissen Phase der Orientierung und auch des Experimentierens, sollte eine Mutter differenzieren können, ob die Bedürfnislage nun eher Sättigung, Körperkontakt oder in einer anderen Richtung läuft und angemessen damit umgehen. Kleinkinder entwickeln mit der Zeit von sich aus ihre individuelle Regelmäßigkeit bezüglich der Nahrungsaufnahme. Diese Entwicklung des Eigenrhythmus wird durch eine "Überschüttung" des Angebots ehr behindert, als gefördert.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass diese Entwicklung des Einfühlungsvermögens in das eigene Kind gar nicht so einfach ist (besonderst in den alltäglichen Stresssituationen und/oder beim ersten Kind sind Frauen oftmals stark verunsichert). Das einzige was man als Eltern tun kann, ist versuchen Ruhe zu bewahren, sich nicht unter Druck zu setzen, gemachte Fehler als menschlich zu akzeptieren und versuchen gemeinsam mit dem Kind zu lernen was für das Kind zu lernen ist.

In der Regel stillen sich Kinder von selbst ab, wenn die Ernährungsgewohnheiten der Erwachsenen zunehmend interessanter werden. Der Zeitpunkt dieses Autonomiebestrebens der Kinder kann stark variieren (dies kann sowohl um das erste Lebensjahr der Fall sein, aber auch später erst einsetzen). Die maßgeblichen Faktoren zur Motivation des Abstillens liegen in der Regel in dem individuellen Sicherheits- und Geborgenheitsbedürfnis des Kindes und der inneren Haltung der Mutter dazu (bei manchen Naturvölkern Süd-Ostasiens und Süd- bzw. Mittelamerikas stillen Mütter ihre Kinder zwischen 3-5 Jahre lang und leisten damit einen - wenn auch nicht absolut sicheren - Betrag zu ihrer natürlichen Schwangerschaftsverhütung). Da die Stillbeziehung zwischen Mutter und Kind emotional sehr intensiv und für das Kind unter Umständen existentielle Bedeutung haben kann, sollte der Übergang zu fester Nahrung nicht schlagartig, sondern langsam und mit besonderer Sensibilität über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgen (auch wenn das Kind mit den Eltern Hühnchen und Blumenkohl zu Mittag ißt, kann es seinen Schlaftrunk immer noch an der Brust zu sich nehmen; vorausgesetzt Mutter und Kind wollen diesen intensiven Kontakt).

Der Entwicklungsschritt der voll entwickelten emotionalen Bindungsfähigkeit des Säuglings, kann jedoch auch zu Trennungsängsten führen ("fremdeln") oder zu Eifersuchtsreaktionen. Im Laufe des zweiten Lebenshalbjahr des Säuglings reift bei diesem zusehends die Wahrnehmung, sowie der Ausdruck von Gefühlen (Liebe, Zärtlichkeit, Freude, Angst, Neid, Wut, Aggressionen ect.). Es ist von erheblicher Bedeutung dem Kind nun Raum und Zeit zuzugestehen seine Gefühle ausleben zu dürfen, wobei ihm signalisiert werden muss, dass es grundsätzlich keine schlechten Gefühle gibt und dass alle Gefühle ihre Berechtigung haben. Zeigt ein einjähriges Kind z.B. starke Verlustängste bzw. Eifersuchtsreaktionen, wenn die Mutter sich phasenweise vermehrt mit dem Geschwisterkind beschäftigt, steht aus dessen Blickwinkel, ein berechtigtes emotionales Bedürfnis dahinter (der Wunsch nach Nähe, Anerkennung, Gesehen-Werden usw.) oder auch Ängste, Trauer ect. All diese Gefühle sind für das Kind in diesem Moment real und existentiell und müssen als solche respektiert werden. Ein angemessener Umgang mit solchen Situationen stellt für alle Eltern einen ziemlichen Balanceakt dar. Jedoch ist es wichtig diese kindlichen Gefühle grundsätzlich zu akzeptieren, anstatt sie aus persönlicher Unsicherheit heraus als negativ zu bewerten. Auch müssen die persönlichen Grenzen von Kindern ernst genommen werden und dürfen auf keinen Fall übergangen werden. Kinder im Fremdelalter (ca. 7. - 8. Monat) können z.B. sehr deutlich ausdrücken, welche Personen sie anfassen dürfen und welche auf Distanz bleiben sollen. Diese Grenzen zu achten und zu respektieren ist grundsätzlich für die weitere kindliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung.

Eine lebendige, sinnliche und lebensbejahenden Sexualerziehung beginnt, wie bereits erwähnt, mit der Geburt des Kindes und ist gleichbedeutend mit einer dynamischen und in das alltägliche Leben integrierten sinnlichen und sexualfreundlichen Grundhaltung gegenüber dem Leben und dem Kind. Sexualität ist nichts isoliertes, es ist ein sinnliches Wahrnehmen dieser Welt, ein Ausdruck von Lebensfreude. Kinder werden als sexuelle Wesen geboren, d.h. sie fühlen und handeln ganzheitlich und trennen nicht zwischen ihrem Körpergefühl und dem Sein; sie sind Körper und mit "Leib und Seele dabei".

Zärtliche erotischen Erfahrungswerte sind für Babys existentiell, sie bestärken das Baby in seiner Selbstwahrnehmung und in seinem Selbstwertgefühl. Deshalb ist ein zärtlichen Umgang und die Vermittlung positiver Gefühle von Körperlichkeit und Körperwahrnehmung, wie sie z.B. beim Baden des Säuglings, beim Einölen, Wickeln, Stillen, liebevollem Halten, Streicheln oder Massieren vermittelt werden, bereits in diesem Alter von erheblicher Bedeutung.

Im Alter von 6 Monaten verinnerlicht ein Kleinkind die Grundhaltung der Mutter bezüglich seinem Körpergefühl. Vor allem auch beim Wickeln ist es deshalb relevant, dass die Eltern keinen Ekel vor den Ausscheidungen ihrer Kinder haben (oftmals drücken Eltern auch den Ekel beim Wickeln mimisch aus oder verbunden mit "iiihh" oder "bäh"- Lauten). Dadurch wird das Kind in seinem Körper- und Selbstwertgefühl verunsichert; das erste was es "produziert" ist quasi schlecht und widerlich.

Es wird klar, dass sich beim Prinzip der Selbstregulation zunächst einmal die Eltern sich ihrer eigene Wertigkeit und Grundhaltung zu sich selbst, den eigenen Gefühlen, der eigenen Körperlichkeit, dem Kind und dem Leben allgemein bewußt werden sollten, um im Umgang mit dem Kind eine authentische Haltung einnehmen zu können. Emotionale Bedürfnisse zu erkennen, bedeutet, sich über seine eigenen Gefühle im klaren zu sein.

Nach dieser ersten Phase der Verschmelzung und der sehr innigen Verbundenheit zwischen Mutter und Kind (etwa die ersten sechs bis zwölf Monate im Leben des Kindes), sollte sehr behutsam und langsam, aber stetig ein Ablösungsprozess einsetzen, der vom zunehmenden Autonomiebedürfnis des Kindes geprägt sein sollte. Die Mutter muss sich zukünftig nicht mehr volle 24 Stunden am Tag auf die Bedürfnislage ihres Kindes konzentrieren, da das Kind nun auch eigene Freiräume für sich beansprucht. Es ist eingebettet in das System der jungen Familie und wird sich in diesem System nur geborgen fühlen können, wenn alle anderen Familienmitglieder nicht nur die kindlichen Bedürfnisse des Babys, sondern auch mit den eigenen Bedürfnissen und Emotionen respektvoll und verantwortungsvoll umgehen können. Besonderst in den ersten sechs Monaten nach der Geburt ist dieses neue Familiensystem noch sehr verletzlich und sensibel. Die damit verbundene Umstellung und Neuorientierung innerhalb der Familie wird oftmals auch durch negative Gefühle begleitet. Säuglinge und Kleinkinder bringen ihre Eltern durchaus an deren persönliche Grenze der Belastbarkeit, sowie der Belastbarkeit der Ehe bzw. Partnerschaft. Dadurch dass Eltern besonders in der ersten Zeit primär in der Rolle der Gebenden sind, benötigen sie einzeln oder auch als Paar kurze Freiräume in denen sie sich auch einmal Sequenzen emotionaler Unabhängigkeit vom Kind gönnen sollten, um dadurch wieder Kraft und Energie tanken zu können. Auch das akzeptieren und zulassen von negativen Gefühlen (wie z.B. Überforderung, Stress, Ärger) ist eine Voraussetzung zur Bewältigung dieser völlig natürlichen Krisenzeiten und schafft die Voraussetzung dafür, dass das Elternteil zukünftig wieder eine grundsätzlich positive und liebevolle Grundhaltung seinem Kind gegenüber einnehmen kann.



Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
            9.2.2. Die Geburt

            9.2.3. Das Neugeborene und das erste Lebensjahr

            9.2.4. Zentrale Aspekte des Erziehungsmodells der Selbstregulationin der praktischen Umsetzung