Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
         6-2-4. Zur Massenpsychologie des Faschismus

      6.3. Die psychatrische Orgontherapie

      7. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Kritik bezüglich Reichs Arbeiten



6.3. Die psychiatrische Orgontherapie

In den vorhergehenden Kapiteln wurde klar ersichtlich, welche Auswirkungen die emotionale Panzerung auf den Menschen, sein Umfeld und auf die gesamte Gesellschaftsform haben kann. Diese Panzerungen lassen sich jedoch weitgehendst in einem therapeutischen Prozess auflösen.

Reich baute die Vegetotherapie auf den Grundlagen der klassischen Psychoanalyse auf. Im Gegensatz zu dieser sah Reich den Menschen in seiner Gesamtheit als untrennbare Körper-Seele-Einheit, folglich behandelte er seelische Störungen fortan auch auf der körperlichen Ebene. Er entwickelte somit eine Methode, emotionalen Panzerungen auf der körperlichen Ebene systematisch aufzulösen und damit auch gleichzeitig psychische Störungen und Verkrampfungen abzubauen. Im Zuge dieser Therapie konnte Reich nachweisen, dass bestimmte Charakterzüge ihre Verankerung in jeweils ganz bestimmten körperlichen Verkrampfungen haben, die segmentartig über den Körper verteilt sind (Segmentpanzerungen). Einer bestimmten Charakterstruktur (Verhaltensmuster) entspricht somit mindestens eine bestimmte Struktur der Segmentpanzerung.

Unter Einbeziehung der Energiefunktionen und des expressiv-energetischen Körperbildes nannte Reich die Vegetotherapie um in psychiatrische Orgontherapie. Therapieziel ist die extensive Entpanzerung des Patienten (und somit die emotionale und energetische Wiederbelebung des Körpers), die Freilegung des menschlichen Kerns, verbunden mit einer verbesserten emotionalen Ausdrucksfähigkeit und Lebendigkeit, sowie eine intensivere Erlebnis- und (aber nicht nur sexuelle) Hingabefähigkeit (orgastische Potenz). Und um es umgangssprachlich auszudrücken: es geht darum sich wieder fallen lassen zu können. Die grundsätzlichen Behandlungsschritte sind: Stabilisierung, Integration und Identitätsbildung.

Die psychiatrische Orgontherapie praktiziert eine duale Herangehensweise: Die Gesprächstherapie verbunden mit der energetischen Körperarbeit.

Die körperliche Entpanzerung und die damit verbundene emotionale Entladung bedürfen einer Bewusstwerdung und daher auch einer konsequenten verbalen Aufarbeitung und Integration. Bei manchen Symptomen wie z.B. Schuldgefühlen ist die verbale Bearbeitung für dessen Auflösung unumgänglich. Auch können sich Panzerungen ebenso auf der gedanklichen Ebene manifestieren, z.B. in Form von intellektueller Abwehr.

Da die Methodik der Gesprächstherapie grundsätzlich bekannt ist (wenn auch individuell unterschiedlich angewendet), möchte ich gezielter auf die energetische Körperarbeit eingehen.

Grundlage der energetischen Körperarbeit ist die systemische Vernetzung zwischen Konflikten, abwehrend-bewältigenden Kommunikationsmustern (Charakterstrukturen) und entsprechend verspannten Muskelsystemen, die sich wechselseitig aufrechterhalten. "Zum Beispiel dient die flache Atmung zur Unterdrückung bestimmter Gefühle, die Muskeln, die sich für und durch das verhaltene Atmen ausbilden, verhindern nun wieder ein tiefes Atmen und damit auch intensivere Gefühle" (Kriz 1989 : 237)

Am häufigsten zeigt sich eine Panzerung in muskulären Spannungen. Reich entdeckte, dass es sieben Segmente im menschlichen Organismus gibt, in denen das freie Fließen von Energie durch Panzerung blockiert bzw. fixiert werden könne. Diese Manifestationszentren sind: Augensegment, Mundsegment, Halssegment, Brustsegment einschließlich Arme, Zwerchfellsegment, Bauchsegment und Beckensegment einschließlich Beine.

Bei Traumatisierungen kommt es zu einer Speicherung negativer (zumeist ängstlicher) Energien in den bestimmten Segmenten (oftmals manifestiert sich ein Gefühl auch in mehreren Segmenten; Wut kann sich beispielsweise in den Augen "widerspiegeln", durch Beißen, also den Mund ausgedrückt werden, durch die Stimme, durch Schlagen mit den Armen oder Treten).

Die Orgontherapie zielt darauf ab, dass der Organismus sich selbstregulatorisch durch Wiedererinnern (z.B. in Form von Flash-backs) und durch den Ausdruck des jeweiligen Traumas der Panzerung entledigen und diese auflösen möchte. Die Arbeit an dem jeweiligen Körpersegment unterstützt und fördert den freien emotionalen Ausdruck und somit das Loslassen verdrängter negativer Gefühle und Informationen. Dies äußert sich durch einen spontanen, physiologischen Entladungsreflex; ein den Körper durchdringendes Beben, welches von einem Glücksgefühl des Durchströmt-seins begleitet ist. Der Patient muss, bevor er zu seinem eigentlichen Kern vorstößt, zunächst seine jeweiligen hasserfüllten Anteile erkennen, fühlen und ausdrücken können.

Konzentriert man also die therapeutischen Bemühungen direkt auf die körperlichen Ausdrucksformen, kann der Vorgang der Freisetzung der unterdrückten Affekte wesentlich effizienter unterstützt werden. Dies sollte jedoch nicht künstlich forciert werden (wie in manchen Neo-Reichianischen Therapieformen z.B. Skan).

Der Therapeut sollte dabei so wenig wie möglich deuten und analysieren, sondern sich in erster Linie an die zu beobachtenden Phänomene halten. Der Weg zu den frühen Traumata darf nur systematisch und in dem individuellen Tempo des Patienten freigelegt werden.

Die folgende Systematik hat logische Gründe und gehört zum wesentlichen Bestandteil der Methodik der psychiatrischen Orgontherapie:

  1. "Die Panzerung in den höheren Segmenten bindet Energie, die für die Auflösung der Panzerung in den unteren Segmenten notwendig sind.
  2. Die am tiefsten sitzende und stärkste Angst (Sexualangst) steckt im Beckensegment, und wir tasten sie nicht an, bis der Patient genug emotionale Kraft und Energie aus seiner Auseinandersetzung mit den Ängsten der oberen Segmente gewonnen hat.
  3. Die Panzerungsschichten haben sich von innen nach außen entwickelt, sie wurden im Laufe der individuellen Geschichte und Entwicklung von innen nach außen aufgeschichtet." (D. Fuckert 1997 : 142)
Der letzte Punkt bedeutet, dass Symptome in der umgekehrten Reihenfolge zur historischen Entstehung aufgearbeitet werden müssen, die jüngsten zuerst.

Um einen kleinen Einblick in die Praxis und Methode der Orgontherapie zu vermitteln, versuche ich stichpunktartig die einzelnen Segmente darzustellen. Es ist jedoch ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sich die verschiedenen Segmente in der Realität wesentlich differenzierter, komplexer und systemischer darstellen, als nun in dieser Kurzfassung. Aus diesem Grunde sei auf die weiterführende Literatur am Ende des Kapitels hingewiesen.

Als Hauptmanifestationsort frühkindlicher Traumatisierung bezeichnete Reich das Augensegment. Alle Emotionen sollten voll durch die Augen ausgedrückt werden können, tiefe Sehnsucht, Traurigkeit, heftige Angst, vernichtende Wut ect. In diesem Augenausdruck spiegelt sich dann das Ausmaß der Integration wieder ("die Augen sind der Spiegel der Seele"). Sind die Augen nicht in Kontakt mit der Außenwelt (in ihrer Bewegung und emotionalem Ausdruck eingeschränkt), hat dies nach orgontherapeutischer Auffassung mit der Unfähigkeit zu tun, Reales von Unrealem zu unterscheiden und spiegelt das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt wider. An der Auflösung der Augenpanzerung kann man arbeiten, indem man Patienten auffordert, jede ihnen mögliche Emotion auch mit den Augen auszudrücken. Man kann auch versuchen sie wieder "in diese Welt" zurückzuholen, indem erstarrte Augen durch Bewegungsübungen vitalisiert werden.

Das Mundsegment äußert sich primär in der Stimme (wimmernde oder bellende Stimme z.B.) und in den verschiedenen Arten des Lächelns und des Mundausdrucks (verkniffene, dünne, gepresste Lippen, zynisches Lächeln, erstarrtes Dauerlächeln ect.) Durch das Imitieren der Stimme oder des Gesichtsausdrucks kann der Therapeut z.B. dem Patienten diesen Ausdruck aufzeigen. Auch Beiß- und Stimmübungen gehören in diesen Bereich.

Am Halssegment offenbart sich z.B. Hartnäckigkeit oder Hochmut (und damit der Versuch den Kopf vom restlichen Körper abzutrennen). Probleme in diesem Bereich hängen zumeist auch mit der Unfähigkeit zusammen, tief weinen zu können oder laut zu schreien, sie sind oft mit dem Laut-sein verbunden. Um die unterdrückte Wut bzw. Angst hervorzulocken, die sich dahinter verbirgt, kann der Therapeut z.B. die verspannte Halsmuskulatur massieren (mit unter auch bis kurz über die Schmerzgrenze) und/oder den Patienten laut schreien lassen.

Das Brustsegment ist ein bedeutender Panzerungsbereich, da die volle Ausatmung für den Ausdruck aller Emotionen eine wichtige Rolle spielt. Tiefe Emotionen gehen immer einher mit tiefer Atmung (ob in Leidenschaft oder in Zorn). Bei Angst halten wir den Atem an ("man bekommt keine Luft mehr" oder hat das Gefühl von "zugeschnürt"-sein), um so die intensiven Emotionen abzuschwächen. Atmung führt dem Körper Energie zu und erhöht so die emotionale Intensität. Atemübungen (Vertiefung des Atems) sind deshalb auch ein zentraler Bestandteil der therapeutischen Praxis. Bei diesen Übungen kommt es häufig zu dem energetischen Phänomen, dass es an verschiedenen, individuell unterschiedlichen Stellen des Körpers anfängt zu kribbeln. Dieses Kribbeln, welches nicht in Körperregionen dringt, die stark gepanzert sind, ist eine Strömungsempfindung der Orgonenergie. Verbunden mit diesen energetischen Körperempfindungen und durch die vertiefte Atmung ist der Patient in der Lage, intensive Emotionen wieder zu fühlen, oftmals können sich Patienten bei solchen Übungen an traumatische Situationen wieder erinnern, welche lange Zeit verdrängt wurden.

Das Zwerchfellsegment wird bei allen austreibenden Vorgängen benutzt (Niesen, Weinen, Husten, Lachen, Erbrechen ect.). Es kann tiefe Wut binden, Weinen unterdrücken und das Erbrechen beim Würgereflex blockieren und eine volle Ausatmung verhindern.

Im Bauchsegment manifestiert sich in erster Linie die Angst. Zumeist wird der Bauch in Angst fest angespannt und so gehalten. A.S. Neill liebte es z.B. seine Schüler in steife und weiche Bäuche einzuordnen, grob gesagt in Ängstliche und Selbstbewusste.

Die mit dem Beckensegment verbundene Panzerung ist in unserer Kultur praktisch universell (vor allem durch rigides Sauberkeitstraining und die dahinter stehende sexualverneinende Grundhaltung unserer Gesellschaft) und verhindert die uneingeschränkten energetischen Strömungsempfindungen in den Genitalien. Die Menschen empfinden dieses Phänomen als Lust- oder Orgasmusangst (dieser Begriff ist identisch mit der Angst vor Kontrollverlust oder vor dem sich-fallen-lassen-könnens). Die massiven Ängste verhindern die Fähigkeit der (nicht nur - aber auch sexuellen) Hingabe und ist gleich zu setzten mit orgastischer Impotenz.

Dies äußert sich in der Einschränkung von Empfindungen im ganzen Beckenbereich und in den Genitalien (bei Frauen sind z.B. vaginale Empfindungen oft stark eingeschränkt, die sexuelle Stimulation ist dann hauptsächlich auf die Klitoris beschränkt; Männer erleben nicht nur den Penis als eingeschränkt empfindungssensibel, sondern ebenfalls den gesamten Beckenbereich). Es sollte jedoch nochmals betont werden, dass sexuelle Problematiken nicht isoliert angegangen werden, da sie Ausdruck der Gesamtpersönlichkeit sind.

Das Auflösen der Beckenpanzerung ist die kritischste Phase und gleichzeitig auch der Beginn der Endphase in der Orgontherapie. Angstzustände können sich in dieser Phase noch einmal in bisher noch nicht da gewesener Intensität zeigen. Deshalb ist es wichtig dieses Segment zum Schluss anzugehen, um sicherzustellen, dass die größtmögliche Energiemenge für diesen Prozess der Entpanzerung zur Verfügung steht (und nicht z.B. durch manifestierte, massive Wut an anderen Segmenten abgezogen wird). Durch Atem- und Körperübungen wird in diesem Segment gearbeitet und Ziel ist der freie Fluss von Energie in diesen Bereich und die damit verbundene Wiederherstellung orgastischer Potenz. Die Gefühle und Empfindungen, die während der Körperarbeit auftreten, teilt der Patient dem Therapeuten mit. Umgekehrt teilt der Therapeut seinen Patienten die Emotionen mit, welche aus der Körperhaltung, Mimik ect. ersichtlich sind. Oftmals führen die angesprochenen Gefühle zu unerwarteten heftigen Gefühlsregungen: "Plötzlich wird die explosive Wut frei, die hinter dem gefrorenen Lächeln eingesperrt war; oder die tiefe Sehnsucht, die sich hinter der rigiden Starre versteckte, löst sich in Zittern und Tränen auf. Mit den Gefühlen kommen auch die verdrängten Erinnerungen hoch und können im Gespräch verarbeitet werden" (Federspiel, Lackinger, Karger 1996 : 453)

Die Rolle des Therapeuten ist in diesem Prozess von erheblicher Bedeutung (sie wurde in früheren Zeiten und auch von Reich unterschätzt). Die Intensität und Echtheit der therapeutischen Beziehung ist zu einem großen Teil für den positiven Verlauf der Therapie verantwortlich. Da das Medium des Therapeuten u.a. visueller Kontakt, Körpersprache und Berührung ist, setzt dies eine permanente Wachsamkeit und Präsenz des Therapeuten voraus; eine Gruppentherapie ist u.a. auch deswegen undenkbar.

Eine weitere wichtige Rolle spielen in der Orgontherapie die Übertragungs- und Widerstandsmechanismen, mit denen sich sowohl der Therapeut, als auch der Patient auseinandersetzen muss.

Frau Dr. D. Fuckert, eine langjährig praktizierenden und eine der führenden Orgontherapeuten der BRD, beschreibt die zu beobachtenden Veränderungen, zu denen es im Verlauf des beschriebenen Therapie- und Entwicklungsprozesses kommt: "Die Patientinnen und Patienten gewinnen mehr Ich-Stärke, Abgrenzungsfähigkeit und Autonomie, sie werden selbstsicherer, kraftvoller, lebensfroher, extravertierter, emotional ausgeglichener, sozialer, bindungsfähiger und beziehungsfähiger. Diese "biologischen Kerneigenschaften" entfalten sich von selbst, von innen heraus, brauchen also nicht angelernt werden. Gegen Ende dieses Entwicklungsprozesses stellt sich die natürliche Fähigkeit zur Hingabe und damit zu dauerhaften Liebesgefühlen mit sexuellem Genuss von selbst ein." (D. Fuckert 1999 : 146 f.) Es sei jedoch auch anzumerken, dass leider nur sehr wenige dieses endgültige Therapieziel der vollständigen orgastischen Potenz erreichen. Man sollte daher bezüglich seiner eigenen Grenzen realistisch bleiben und eine Therapie nicht als Allheilmittel für persönliche, oder globaler gesehen, als gesellschaftliche Lösungsmöglichkeiten par excellance sehen.

Die orgontherapeutische Technik ist deswegen sehr wirkungsvoll, weil sie wie kaum eine andere Therapieform emotionale Tiefe erreicht. (zusammengefasst aus M. Herskowitz 1996; D. Fuckert 1997 : 138 - 162; D.Fuckert 1994 : 66 - 79; K. Federspiel, I. Karger 1996 : 450 - 454)

Für das praktische sozialpädagogische Arbeitsfeld, kann dieses Wissen über Verpanzerungen und deren Zusammenhang mit dem körperlichen Ausdruck von erheblicher Bedeutung sein. Auch wenn besonders Laien das voreilige Deuten und Analysieren vermeiden sollten, so kann doch dieses orgonomische Wissen, sofern der Blick dafür offen und sensibilisiert ist, einige Einblicke in den jeweiligen Gemütszustand bzw. in die psychische Struktur des Gegenübers geben.



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