Diss: Axel Kühn: Alexander Neill
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Fortsetzung (Nachgehende Autorinnen- und Autorenbefragung)



Zusammenfassung und Fazit

Die Autorinnen und Autoren, die sich nach Neills Tod mit seiner Person, seinem Werk oder der Schule Summerhill beschäftigt haben, wandten sich unterschiedlichsten Einzelaspekten dieses Themenkomplexes zu. Die akademischen Arbeiten haben fast alle eine biographische Einleitung, an die sich die Beschäftigung mit Teilaspekten Neills Erziehungsidee anschließt. Die Qualität der vorliegenden Arbeiten unterscheidet sich sehr. Dabei müssen einige Magister- und Diplomarbeiten den Vergleich mit den z.T. in hohen Auflagen veröffentlichten anderweitigen Veröffentlichungen nicht scheuen.

Bei dieser Zusammenstellung fällt auf, daß erst zehn Jahre nach Neills Tod eine Beschäftigung mit ihm und seiner Schule neuerlich einsetzt. Nach 1983 erscheinen die größeren Werke dann allerdings fast in jährlichem Abstand. Dies belegt, daß Neill zu Lebzeiten keine "Schüler" um sich gesammelt hat, die sein Werk fortgeführt haben. Statt dessen greifen nun überwiegend Außenstehende, vielfach junge Autorinnen und Autoren, die Neill nicht mehr persönlich kennengelernt haben, seine Person und seine Schulidee zunächst als Thema von Qualifikationsarbeiten (Dissertationen und Examensarbeiten) auf. Eine Ausnahme bildet gewissermaßen Jonathan CROALL, der 1983 eine umfassende Biographie Neills vorgelegt hat. Auch aus diesem Grund wurde sein Werk bereits im vorangehenden Abschnitt beschrieben. Im späteren Verlauf nehmen literarische Werke zu und der Fokus der Beschäftigung liegt zunehmend auf der Schule selbst.

Zusammenfassend soll nun zunächst ein knapper Katalog von Themenblöcken, die in den Arbeiten behandelt werden, aufgelistet werden. Anschließend werden die Einstellungen der Autorinnen und Autoren bezüglich der Wirkung Neills und Summerhills näher betrachtet.

Katalog zentraler Themenstellungen in den Veröffentlichungen

Begründung von Erziehungsnormen, Demokratiestrukturen / Autorität und Selbstbestimmung [KARG 1983, SAFFANGE 1985, GRAVEL 1985]; schottische Einflüsse [WELLS 1985]; der Einfluß der Psychoanalyse auf Neills Erziehungspraxis [SCHMIDT-HERRMANN 1988]; "Freiheit" und der Vergleich mit Rousseau [HIRSCHFELD 1987]; Einfluß auf das öffentliche Schulwesen in Deutschland [KAHLO 1991(?), AHRENS 1996, BOSSELMANN 1999]; Insider-Outsider Sicht bzgl. der Schule [GOODSMANN 1992]; Summerhill/Glocksee [BLEIWEIS 1995]; Bewertung durch ehemalige Schülerinnen und Schüler [ZELLINGER 1996]; Biographie / historische Voraussetzungen und Genese von Neills Erziehungsidee [KÜHN 1995, KAMP 1997]; "Scheitern" der Erziehungsidee [LUDWIG 1997]; Erfahrungen an der Schule lange nach Neills Tod [APPLETON 2000]; mögliche Schließung [SIMS 2000]

Diese Themenblöcke lassen nur verdeckt eine stringente Entwicklung einer pädagogischen Diskussion erkennen. Es macht den Eindruck, daß die Autorinnen und Autoren sich wenig aufeinander beziehen. Lediglich GOODSMANN [1992] rekapituliert eine Reihe früherer Veröffentlichungen, dies aber weniger aus rezeptionsanalytischer Perspektive als aus Sicht der Ethnologin auf ihren Forschungsgegenstand.

Die "frühen" Autoren KARG [1983] und SAFFANGE [1985] beschäftigen sich noch sehr ausführlich mit der Aufarbeitung von Neills Schriften. Sie versuchen, aus ihnen eine schlüssige Theorie oder ein Erziehungskonzept zu extrahieren bzw. sie in Bezug zu anderen Theoriekonstrukten zu stellen [WELLS 1985, SCHMIDT-HERRMENN 1988, HIRSCHFELD 1987 und gewissermaßen auch der Roman von GRAVEL 1985].

Die Examensarbeiten deutscher Studentinnen [KAHLO 1991(?), AHRENS 1996, BOSSELMANN 1999] beschäftigen sich fast ausnahmslos [Ausnahme: BLEIWEIS 1995!] mit der Frage einer Übertragbarkeit der Summerhill-Idee auf den öffentlichen Schulsektor. Daß sie dies über einen Zeitraum von acht Jahren tun, ist ein Indiz dafür, daß die Unzufriedenheit mit den pädagogischen Maximen der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung fortdauernd gärt und daß Studentinnen und Studenten dieser Studiengänge in der pädagogischen Diskussion der letzten Jahrzehnte nach Alternativen zum herkömmlichen Schulbetrieb suchen.

Ein Phänomen ist die neuerliche Beschäftigung mit Neills Biographie bei KÜHN und KAMP in den Jahren 1995-1997. Wir entstammen einer Generation, die erst nach Neills Tod mit dessen Schriften in Kontakt gekommen ist. Die Schulwirklichkeit Summerhills haben wir beide ohne den "charismatischen" Schulgründer bei Studienbesuchen erlebt. In der biographischen Beschreibung arbeiten wir besonders intensiv die Wurzeln Summerhills aus den 20er Jahren in Hellerau auf. Margit ZELLINGER, die ihre Examensarbeit 1996 in Salzburg veröffentlicht hat, tut ähnliches für den kurzen Zeitraum, in dem die Schule in Österreich war. Sie konzentriert sich jedoch erneut auf einen empirischen Ansatz, der der Frage nachgeht, welche Auswirkungen die Pädagogik Neills auf ehemalige Schülerinnen und Schüler hat. Damit leitet sie über auf eine Beschäftigung mit Summerhill in seiner gegenwärtigen Struktur.

In der Aufsatzsammlung Peter LUDWIGS [1997] geht es (mit Ausnahme von LUDWIGS langem Aufsatz) zunehmend um die Schulwirklichkeit Summerhills lange nach Neills Tod. Dieses Thema nimmt Appleton [2000 - das Manuskript liegt seit 1995 vor!] erneut auf und beschreibt, wie Summerhill fast 75 Jahre nach seiner Gründung funktioniert. Ähnlich ging GOODSMANN bereits 1992 vor. Bei diesen Beschreibungen tritt der Schulgründer immer mehr in den Hintergrund. Es geht weniger um die Person Neills als um die Realität seines Werkes. Gewissermaßen unfreiwillig nimmt die letzte vorliegende Buchveröffentlichung, der Roman von Hylda Sims, diese Tendenz auf und schildert eine drohende Schulschließung und die durch sie ausgelösten Mechanismen.

Vielleicht ist in dieser Entwicklung die logische Konsequenz aus dem wiederkehrenden Vorwurf zu erkennen, Neill sei ein brillanter Praktiker und ein lausiger Theoretiker gewesen. Immer wieder schrieb er selbst, er beschreibe nicht einmal ein Experiment, sondern eine pädagogische Demonstration. Diese Demonstration und ihre Implikationen geraten erkennbar immer stärker in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung. Einhergehend damit wird die "charismatische Persönlichkeit" des Schulgünders in Buchveröffentlichungen über Summerhill immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Vielleicht auch aus der Erkenntnis heraus, daß pädagogische Theoriebildung wenig Einfluß auf die pädagogische Praxis hat und dazu verführt, das Schulkonzept einem Theoriezusammenhang zuzuordnen, der nur am Rande mit der Schulwirklichkeit zu tun hat, wird der Realität der Summerhill-Schule als Praxisbeispiel ein zunehmend höherer Stellenwert zugebilligt, womit sich - in gewisser Weise - thematisch der Kreis zu den ersten begeisterten Veröffentlichungen über Neill und Summerhill schließt. Die anfängliche Euphorie ist jedoch in den späteren Werken von der realistischen Erkenntnis abgelöst, daß die Schule mit ihrem fortwährend revolutionärem Konzept sich in einem nicht immer wohlwollenden Umfeld behauptet hat und behaupten konnte.

Bezogen auf die Einschätzung von Neills Wirkung ist eine eingehendere und differenzierte Betrachtung der Arbeiten geboten.

So betont KARG, daß es der wichtigste Beitrag Neills zur pädagogischen Diskussion sei, nachgewiesen zu haben, daß Schülerinnen und Schüler, die frühzeitig lernen, Normen und Regeln selbst zu vereinbaren und sie zu begründen, in der Lage sind, "lebenslang" diesen Prozeß selbstbestimmt weiter zu betreiben. Schulen müssen ihm zufolge wahrhaftig demokratische Strukturen entwickeln, für die Neills Normengebung ein Vorbild sei. Die Frage, inwieweit diese Leistung Neills tatsächlich von der pädagogischen Öffentlichkeit aufgegriffen wird und ob sie als seine genuine Leistung gewürdigt wird, bleibt ebenso unbeantwortet wie die Frage danach, ob die ehemaligen Summerhill-Schülerinnen und -Schüler in ihren aktuellen Lebensbezügen tatsächlich die Gelegenheit haben, die Selbstbestimmungskultur Summerhills zu realisieren. Empirische Daten hierzu sind nie erhoben worden und es erfordert sicher erhebliche Anstrengungen ein Forschungsdesign zu entwickeln, das eine Erhebung valider Daten unter dieser Fragestellung ermöglicht.

Ute SCHMIDT-HERRMANN schreibt, daß Neills erzieherischer Umgang geltende Regeln in Frage stelle und erst dann akzeptiere, wenn ihre Begründung und Notwendigkeit einsichtig geworden sind. Sie vernachlässigt die Frage nach einer konkreten Übertragbarkeit und würdigt Neills Leistung bei der Etablierung eines "wenig direktiven" Führungsstils und der Gewaltlosigkeit in der Erziehung.

Neills Einfluß auf das öffentliche Schulwesen wird höchst unterschiedlich bewertet. WELLS betont für Schottland, daß die einschneidenden Veränderungen im dortigen Schulwesen unzweifelhaft auf Neills Einfluß zurückzuführen seien. Demgegenüber schreiben die deutschen Autorinnen, die sich mit dieser Fragestellung befassen, fast unisono, daß es für die hiesige Schulrealität keinen solchen Einfluß gebe, ja daß ein solcher Einfluß strukturell ausgeschlossen sei [KAHLO 1991(?), AHRENS 1996]. KAHLO betont, daß der Einfluß Neills weniger auf die Schule als auf die familiäre Erziehung gewirkt habe. Etwas weiter geht Peter LUDWIG, der deutlich macht, daß es dank Neill oder der Diskussion um ihn mittlerweile nicht mehr möglich ist, einen autoritären Erziehungsstil zu rechtfertigen. Es gilt inzwischen als völlig unumstritten, daß Kindern und Jugendlichen Autonomie zugesprochen wird, weil sie auf andere Weise nicht in der Lage sind, in demokratische Strukturen hineinzuwachsen. Peter LUDWIG drückt sich bewußt vorsichtig aus, wenn er schreibt, daß es die durch Neill angeregte Diskussion war, die diesen Effekt hatte. Ob diese Diskussion nun um Neills Gedanken kreiste oder ob diese durch den bereits bestehenden Diskurs eine so große Popularität erhielten, entzieht sich der nachgehenden Einschätzung.

Neills größte Leistung - folgt man dieser Zusammenfassung - war es also, demokratische Strukturen an einer Schule einzurichten, die ihre Basis auf der Grundidee hatten, daß Kinder und Jugendliche autonom entscheiden können. Die Tragweite dieser Autonomie war und ist in Summerhill außerordentlich weit [79]. Wenn Summerhill je ein Vorbild für institutionalisierte Erziehung war, so wurde die Autonomie der Kinder nie im gleich großen Ausmaß umgesetzt. Daß eine solche Umsetzung und Ausweitung der Autonomie gerade in Zusammenhang mit der heutigen pädagogischen Diskussion einen bedenkenswerten Ansatz darstellt, soll in einem späteren Abschnitt dargestellt werden (àS.151). Zunächst sollen erneut die Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, die sich z.T. vor über 40 Jahren mit Neills Idee auseinandergesetzt haben.



[79] Einschränkungen in der umfassenden Demokratisierung des Schulalltags in Summerhill beschreibt John Darlingin einem Zeitschriftenaufsatz [vgl. Darling1992]



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